Das Potenzial

zur Selbstentfaltung

 

Ich erlebe bei meinen Aufstellungsworkshops immer wieder folgenden Aufstellungsablauf unterschiedlicher Personen:

Ein(e) Teilnehmer/in hat sich selbstständig überlegt, was sie aufstellen möchte. Sie erzählt niemandem, um welches Thema es geht, sucht sich Stellvertreter aus der Gruppe und teilt auch diesen nicht mit, wen sie repräsentieren sollen: eine "verdeckte" Aufstellung. Selbst ich als Moderator bin nicht eingeweiht.

Die Stellvertreter dürfen sich von Anfang an frei bewegen und allen Impulsen folgen. Es entwickelt sich ein improvisiertes Rollenspiel. Die Stellvertreter kommunizieren miteinander, teilen ihre Gefühle mit, bewegen sich - und die aufstellende Teilnehmerin sitzt beobachtend am Rand, stellt ab und zu eine Frage, probiert selbst manchmal etwas aus, ist berührt von dem, was sich in den Handlungen der Stellvertreter zeigt, weint intensiv, während allmählich in der Aufstellung eine Versöhnung zum Vorschein kommt. Und am Ende fühlen alle Stellvertreter: Jetzt ist es gut, die Aufstellung hat ein neues und harmonischeres Gleichgewicht erreicht. Die aufstellende Teilnehmerin fühlt Dankbarkeit für alles, was sich gezeigt hat.

Ich als Moderator und auch alle anderen passiven Teilnehmer saßen schweigend am Rand und beobachteten alles. Keiner hatte eingegriffen. Keiner wusste, worum es ging - nur die aufstellende Teilnehmerin wusste Bescheid, konnte bewusst alles mitleben und mitdenken.  Und die Lösung entwickelte sich ganz allein, ganz selbstständig, ganz autonom, "autopoietisch", ganz frei zwischen den Stellvertretern und der aufstellenden Teilnehmerin.

 

Wenn solche Aufstellungen immer wieder möglich sind, dann ist meine Konsequenz als Moderator aus dieser Erfahrung folgende:

Ich möchte diesen Prozessen so gut wie es geht nicht im Wege stehen. Ich gehe also immer zu Beginn jeder Aufstellung davon aus, dass sie ganz selbstständig ablaufen kann, ohne dass meine Hilfe und Impulse überhaupt gebraucht werden. Ich bin überflüssig. Das ist meine Grundhaltung. Nur wenn Fragen auftauchen, auf die ich in mir Antworten spüre, oder sich Ungleichgewichte zeigen, die sich nicht von selbst zu lösen scheinen, dann stelle ich meine Antworten und Impulse der aufstellenden Person und ihrer Aufstellung zur Verfügung und überlasse es anschließend wieder ihr, wie sie ganz autonom mit meinen Antworten umgehen möchte. Solange sie keine weitere Frage hat und sich kein weiteres Ungleichgewicht aufrechterhält, zu dem ich eine Idee spüre, bin ich wieder überflüssig.

Deswegen nenne ich die Form der Aufstellungen, die ich für sehr geringe Teilnahmegebühren organisiere und begleite: "Das freie Aufstellen".

 

Aus dieser Grundhaltung heraus kann ich verstehen, dass Aufstellungsleiter, die für ihre Aufstellungsseminare hohe Gebühren verlangen, es möglicherweise schwer haben, sich selbst grundsätzlich als überflüssig zu sehen. Es könnte der Konflikt auftauchen: "Wenn ich eigentlich gar nicht nötig bin und die Aufstellungen das Potenzial besitzen, für sich selbst zu sorgen, wofür werde ich dann noch bezahlt?" Ist ein Aufstellungsleiter, der hoch bezahlt wird, nicht automatisch in der Pflicht, etwas zum Ausgleich zu leisten? Und werden durch diese Pflicht des Leiters den Freien Aufstellungen nicht auch gleichzeitig "Grenzen" gesetzt? Könnte es sein, dass diese Pflicht oft als "Verantwortung" missverstanden wird?

Ich behaupte: Der Preis für das Verlangen hoher Gebühren ist die Begrenzung des oben aufgezeigten Potenzials zur freien Selbstentfaltung. Nur wer bewusst absichtlich innerhalb dieser Begrenzung arbeitet und gleichzeitig die Möglichkeit der Entgrenzung anerkennt, ohne sie zu wählen (die Kraft des Nichtgewählten in das Gewählte fließen lassen), kann sein eigenes Potenzial innerhalb dieser selbstgewählten Grenzen voll entfalten. Doch das freie Aufstellen zulassen und sich selbst als überflüssig erleben könnte in solch einem Rahmen schwer fallen.

 

Das freie Aufstellen findet bei mir in kostenlosen Wochenend-Workshops statt, die auf Spendenbasis angeboten werden, und in Kurzworkshops (regelmäßig mittwochs 3 Stunden), die 12,- Euro Eintritt kosten.

Kann ich von dem Organisieren solcher Workshops leben? Nein. Aber ich lebe in ihnen und zahle gerne dafür den Preis, den es mich kostet. Denn ich kann mich dort - umgeben von genialen Impulsen des Universums - selbst immer weiter entfalten.

 

Autor: Olaf Jacobsen     Erschienen in: "Systemische Aufstellungspraxis" Heft 1, 2006, S.47 ff. 

 

 

Inhaltsverzeichnis:

 

"Die Konsequenzen eines jungen Aufstellungsleiters", 2002
"Frei oder geführt?", 2005
"Das Potenzial zur Selbstentfaltung", 2006
"Missverstanden - Das freie Aufstellen ergänzt", 2006
"Frei ist nicht gleich frei", 2007
"Verstrickte Gefühle - Familienstellen hilft", 2007
"Familienprobleme - oft nur Theater?", 2008
"Wünsche wecken Wirkungen und Wertungen", 2010
"Interview mit Olaf Jacobsen - von Ilka Baum", 2011

"Das Potenzial der Freien Systemischen Aufstellungen" - PDF-Datei, 2011

 

 

 

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