Hier als PDF aus der Zeitschrift "Praxis der Systemaufstellung", Quelle.
Ich gehöre zu der Gruppe von Aufstellungsleitern, über die diskutiert wird, ob sie Aufstellungen leiten sollten oder nicht: Ich bin 35 Jahre alt, besitze keinerlei Ausbildungen und Qualifikationen anerkannter therapeutischer Art und habe in Aufstellungen sehr wenig praktische Erfahrungen (Teilnahme an zwei Arbeitstagungen, an zwei kleinen Workshops und an einem Aufstellungsseminar; eigene Aufstellungen mithilfe von Zetteln). Ich fühle mich tief in meinem Inneren dazu "berufen", Aufstellungen anzubieten, was ich auch erst seit August dieses Jahres tue.
Bisher haben sich in dieser Zeitschrift zu dem Thema "Wer sollte Leitungsaufgaben übernehmen und wer nicht?" hauptsächlich Personen zu Wort gemeldet, denen man intensive und langjährige Erfahrungen zuschreiben kann. Deswegen möchte ich an dieser Stelle einen Teil der umstrittenen Gruppe repräsentieren, auch wenn ich weiß, dass meine Sichtweise genauso subjektiv ist wie die Sichtweisen der Erfahrenen und damit keine Gruppen-Repräsentationskriterien erfüllen kann.
Ich beobachte die Diskussion über das Lehren und Lernen vom Familien-Stellen seit der ersten Arbeitstagung 1997 in Wiesloch. Ich selbst bin 1996 durch das Buch "Ordnungen der Liebe" das erste Mal auf die Aufstellungsarbeit gestoßen und habe es nach dem Lesen sofort mit Erfolg für mich und eine gute Freundin von mir angewendet (mithilfe von Zetteln). Es hatte beim Lesen dieses Buches in mir "klick" gemacht. Seitdem habe ich immer mal wieder mit mir allein in meinem Zimmer Aufstellungen für mich selbst mit Zetteln durchgeführt, die mir in der jeweiligen Problematik zu neuen Lösungsansätzen verhalfen.
Warum funktioniert das auf so einfache Weise?
Eine Frage, die häufig gestellt wird. Doch eine allgemein anerkannte Antwort steht noch aus, wir suchen noch. Inzwischen festigt sich der Begriff "Resonanz" in diesem Zusammenhang immer mehr, und die (alte, "weise") Weltsicht, dass wir unter der Oberfläche alle miteinander verbunden sind, erhält allmählich für uns durchschnittliche Bürger ihre Daseinsberechtigung. In dem Versuch, die Phänomene der Aufstellungen zu erklären, gelangen wir immer stärker zu Sichtweisen, die schon seit Jahrtausenden in unterschiedlichsten Formen von Erleuchteten gelehrt werden. Unsere Deutungsversuche dieser Phänomene lassen uns alle gemeinsam schneller reifen, als es bisher auf den üblichen therapeutischen Wegen möglich war.
Was sich in den letzten Jahren verändert hat
Mit tiefer Freude beobachte ich, dass mein innerer Widerstand gegen bestimmte Interventionen von Bert Hellinger, den ich 1997 noch fühlte, wenn ich ihn bei seiner Arbeit beobachtete, sich inzwischen auflösten durfte durch die aktuellen "Bewegungen der Seele", in denen Bert Hellinger dem Emotionsfluss der Repräsentanten und Klienten wesentlich mehr Freiraum einräumt als noch vier Jahre zuvor und auch in den Bewegungswünschen der aufgestellten Personen einen tieferen Sinn entdeckt hat.
Des Weiteren freue ich mich über die Erkenntnisse, dass niemand etwas "verspielen" kann. Wer als Aufstellungsleiter eine Person einfach nach draußen schickt, weil sie verspielt hat (z.B. durch Mord), hat den Schritt zur Integration dieser Person noch nicht wahrnehmen können. Erst allmählich wird die Lösung bewusst, dass der Täter mit dem Opfer durch die Tat untrennbar verbunden ist und die Würdigung dieser Tatsache alle Beteiligten entlastet.
Auch die Bezeichnung "Missbrauch" löst sich in ihrer bisher üblichen Bedeutung schrittweise auf. Es wird erkannt, dass Missbrauch nichts anderes ist als das Wasser eines Flusses, das sich durch einen gebrochenen Deich den Weg in das Hinterland sucht und damit dieses Land überflutet und "missbraucht". Niemand macht dem Wasser einen Vorwurf. Jeder sieht: Es folgt nur seinem Bedürfnis nach Ausgleich. Und natürlich wird darum gekämpft, dass dieser Missbrauch aufhört, doch nicht indem das Wasser beschimpft wird und man sich davon emotional distanziert und hart wird und vom Wasser Konsequenzen fordert, sondern indem man versucht, den Deich an der Stelle wieder zu reparieren, durch die das Wasser fließen konnte. Mit den Folgen des Deichbruches muss man leben. Die Konsequenzen zieht man selbst: Man verstärkt den Deich.
Und ich frage mich: Wenn ich in der Gegenwart gegenüber der Entwicklung der Aufstellungsarbeit so eine "Erleichterung" zu fühlen in der Lage bin und mit meinem Widerstand vor fünf Jahren eigentlich bereits diese Entwicklung im Voraus wahrnehmen (aber nicht deuten) konnte, ist das dann nicht die beste Grundvoraussetzung dafür, Aufstellungen zu leiten? Ich erkenne jetzt in meinem damaligen Widerstand gegen bestimmte Interventionen eine Wahrnehmungsfähigkeit durch mein Gefühl, die sich mir in letzter Zeit dadurch bestätigt hat, dass die Aufstellungsarbeit genau den Weg gegangen ist, den ich mir unbewusst gewünscht hatte.
Hätte ich vor 5 Jahren gleich Aufstellungsseminare angeboten und hätte meinen Klienten damals schon diesen Freiraum zukommen lassen, der sich jetzt in den "Bewegungen der Seele" und anderen Entwicklungen zeigt, dann hätte ich mich nach meinem Gefühl gegen die Arbeit von Bert Hellinger gestellt, denn wie kann ich "unerfahrener" Mensch behaupten, ich wäre in dem Punkt einen Schritt weiter als er?
Was ist Familien-Stellen wirklich?
Die Tatsache, dass ich "unerfahren" zu sein scheine, hat mich also gebremst. Doch hätte ich diese Bremse nicht gehabt, sondern wäre als Unerfahrener auf breiter Ebene von allen Erfahrenen zum Aufstellen eingeladen und ermutigt worden in meinen Impulsen, hätte dann das Feld der Aufsteller nicht noch schneller reifen können, weil wir voneinander gelernt hätten? Erst jetzt, wo ich mich durch die aktuelle Entwicklung bestätigt fühle, wage ich den Schritt, der mir nach Meinung einiger Experten eigentlich immer noch nicht zusteht: Ich müsse mindestens 50 Jahre alt sein und eine grundlegende therapeutische Ausbildung und Qualifikation besitzen (nach Aussage von Albrecht Mahr und anderen, die sich seiner Meinung anschließen).
Ich möchte an dieser Stelle gleich direkt auf Albrecht Mahr eingehen. In seinem Artikel "Überlegungen zur Weiterbildung im Familien-Stellen und die Rolle der IAG" im letzten Heft (1/2002) nennt er das Familien-Stellen ein "in Gruppen und im Einzelsetting angewandtes psychotherapeutisches Heilverfahren". Wenn ich ihm in dieser Bezeichnung zustimmen würde, dann würde ich ihm auch in vielen seiner weiteren Gedanken darüber zustimmen.
Doch das Familien-Stellen ist kein psychotherapeutisches Heilverfahren. Genauso wenig wie unsere menschliche Sprache ein Heilverfahren ist, weil sie in Therapien angewandt wird. Des Weiteren sind das Weinen, das Lachen, das Schreien, das Umarmen, das Verbeugen, das Fühlen, das Augenrollen, die Musik, Rollenspiel, etc. auch keine Heilverfahren einer Psychotherapie, nur weil sie im Verlauf einer Therapie auftauchen oder angewandt werden. Dieser Irrtum ist meiner Meinung nach die Ursache des Zwiespaltes unter den Aufstellern.
Was ist das Familien-Stellen dann?
Es ist eine Wahrnehmungsform für uns Menschen, die uns allen auf neue Weise bewusst werden durfte. Wir können mithilfe fremder Personen mehr über uns selbst und unser System, in dem wir leben, wahrnehmen. Es ist eine neue Reflexionsmöglichkeit, die zwar schon immer bestanden hat und auch den Menschen bewusst war, die gelehrt haben, dass unsere Umwelt für uns einen Spiegel darstellt, doch die nun viel gezielter eingesetzt werden kann. Wir können über unsere eigene Person mit ihren Gleichgewichten und Ungleichgewichten viel umfassender reflektieren und uns auf diese Weise in neue und bessere Gleichgewichte bewegen.
Man kann Aufstellungen nicht mit einem Handwerk, einer Kunst oder einer ärztlichen chirurgischen Fähigkeit vergleichen, die man lernen muss. Dazu stehen Aufstellungen zu nahe am realen alltäglichen Leben. Sie sind wie ein "Wachrütteln". Sie bringen lediglich etwas an die Oberfläche, was bei jedem Menschen bereits vorhanden ist.
Aufstellungen "wirken" nicht, sondern sie geben nur den Raum für bereits vorhandene Wirkungen. So wie ein Spiegel uns nicht unser Gesicht gibt, sondern nur den Raum dafür bietet, dass wir unser Gesicht selbst sehen können. Ein Spiegelbild "wirkt" nur dadurch, dass wir (oder unser Unbewusstes) eine Sache besser erkennen und darauf gezielter reagieren können.
Ein Aufstellungsleiter kann uns diesen Spiegel auch nicht glätten oder verzerren, denn er gehört dazu, er ist ein Teil des Spiegelbildes. Im Endeffekt liegt es an uns selbst, ob und wie wir dem gesamten Spiegelbild glauben und wie wir darauf reagieren.
Und jede äußere oder innere Reaktion von uns wirkt sich durch die tiefe Verbundenheit aller Wesen automatisch auf diejenigen aus, die auf besondere Weise mit uns verbunden sind, die mit uns auf irgendeiner Ebene in Resonanz schwingen. So lassen sich auch die "Fernwirkungen" erklären.
Ausbildung
Und wer möchte jetzt behaupten, es dürften nur "auf bestimmte Weise ausgebildete Menschen" für andere einen Spiegel darstellen? Und wer will feststellen können, wann dieses Spiegelbild stimmig und wann es unkorrekt ist, oder welche "Qualität" es hat? Das kann doch immer nur derjenige erleben, der dieses Spiegelbild zu Gesicht bekommt. Nur der Betroffene kann erspüren, ob sich bei ihm etwas löst oder etwas verschlimmert, ob sich ein innerer Widerstand regt oder ob eine Erkenntnis befreit.
Meiner Meinung nach ist das Hauptproblem bei der Überlegung, wer Aufstellungen anbieten darf, nicht das Kriterium "Erfahrung", sondern das Kriterium "Deutung". Es kommt auf die Sichtweise an, die ein Mensch hat. An unseren eigenen Kindern dürfen wir erleben, dass es schon in sehr jungem Alter Sichtweisen gibt, die uns erstaunen und sogar befreien können.
Und wir spüren es auch eindeutig, wenn ein anderer Mensch etwas deutet oder erklärt, was sich für uns nicht stimmig anfühlt, was nicht löst.
Wer diesen Unterschied nicht selbst wahrnehmen kann, der ist sowieso gefährdet, in irgendeinem Bereich des Lebens naiv auf Erklärungen anderer Menschen hereinzufallen, nicht nur bei Aufstellungen.
Ich stimme dem zu, dass jemand, der eine Weltsicht entwickelt hat, die den Aufstellungen eher im Wege steht und Lösungen verhindert, eine längere Ausbildung benötigt, um diese Sichtweise zu lösen und zu korrigieren, denn er hat ja sein gesamtes Leben auf dieser Sichtweise aufgebaut und muss nun das Loslassen lernen und sein Leben langsam umordnen. Doch derjenige, der so eine Weltsicht hat, wird mit Aufstellungen zunächst auch nicht viel anfangen können und wird sie selten anbieten wollen. Tut er es doch, so stellt er für naive Klienten einen passenden Spiegel und damit eine wichtige Herausforderung dar. Von anderen Klienten wird er nicht ernst genommen werden.
Und hat auf der anderen Seite jemand als Kind, als Jugendlicher und als junger Erwachsener durch bestimmte Umstände bereits eine Sichtweise entwickeln dürfen, die Aufstellungen von Anfang an integrieren und in ihrem Verlauf unterstützen können, wozu dann noch eine "Erfahrung", die eigentlich gar nicht mehr benötigt wird?
Wer möchte behaupten, dass "Weisheit" im Alter liegt und nicht in der stimmigen SIchtweise der Einheit und Verbundenheit zwischen allen Wesen inklusive dem überall vorhandenen Bedürfnis nach Ausgleich?
Der Hinweis eines Aufstellers, man brauche viele Erfahrungen, um Aufstellungen leiten zu können, könnte ein Zeichen dafür sein, dass er selbst viele Erfahrungen benötigt hat. Und nun geht er davon aus, diesen Lebenslauf auf andere Menschen übertragen und seine eigene Erfahrung generalisieren zu können.
Wirkt ein Lehrer, der auf irgendeiner Ebene denkt, der Schüler müsse genauso lernen, wie er selbst gelernt hat oder wie es seiner Ansicht nach stimmig ist, nicht eher abschreckend und unflexibel auf den sensiblen Schüler?
Und fühlt sich der Schüler dadurch nicht eher unfrei gegenüber seinen eigenen Methoden des Lernens und Wahrnehmens?
Es kommt darauf an, was der Schüler selbst gerne möchte. Eventuelle Überlegungen zu einer "Ausbildung" müssten doch eigentlich zuerst danach forschen, wo die Unsicherheiten eines "Auszubildenden" sind, welche Fragen er stellt, welches Interesse oder Bedürfnis er hat, wo genau die "Nachfrage" besteht.
Wie wäre es, einfach nur bereit zu sein, Fragen nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten und sich selbst beobachten zu lassen? So wie Bert Hellinger?
Das morphogenetische Feld der Aufsteller
Ist wirklich der Weg zur (eigentlich nicht in Worte fassbaren) "leeren Mitte" nur über lange und intensive Reifung der Persönlichkeit erreichbar? Oder gibt es da nicht auch noch das morphogenetische Feld, das dafür sorgt, dass Menschen eine Entwicklung schneller durchleben können, wenn bereits vorher andere Menschen den Weg der Erkenntnis vorgebahnt haben?
Sollte Rupert Sheldrake mit seiner Theorie Recht haben, dann müssten die erfahrenen Aufsteller eher zu den Unerfahrenen sagen: "Wir haben lange gebraucht, um zu unseren Erkenntnissen zu kommen. Das bedeutet für euch, dass die Wege nun gebahnt sind. Ihr werdet schneller als wir zu diesen Erkenntnissen gelangen. Also folgt eurem Gefühl und euren Impulsen, es kommt aus dem Kollektiv und wird euch stimmig führen."
Wer an so eine Wirkung aus dem Kollektiv (oder auch der "großen Seele") nicht glaubt, wieso glaubt er dann an die Wirkung einer Aufstellung?
Verantwortungsübernahme
Wenn ein Aufstellungsleiter die Lösungsbilder aus seinem Gefühl und seiner Meinung nach aus dem kollektiven Gewissen holt, heißt das natürlich nicht, dass er nicht die Konsequenzen seiner Taten zu tragen hat. Jeder muss die Folgen seiner Entscheidungen tragen, ob er es möchte oder sich dagegen wehrt. Und wenn er sich gegen bestimmte Folgen wendet, wird er erfahren, dass auch das seine Folgen hat. Niemand kann sich dem überall vorhandenen Drang nach Ausgleich entziehen. Wieso also machen sich darüber bestimmte Personen Gedanken oder sprechen Warnungen aus, dass ein Aufstellungsleiter große Verantwortungen tragen muss?
Erstens impliziert diese Warnung, dass Verantwortungsübernahme für andere Menschen überhaupt möglich ist, und zweitens trägt jeder lebende Mensch selbstverständlich und unabänderbar große Verantwortung - aber immer nur für sich selbst.
Meiner Meinung nach ist die Sichtweise, dass Therapeuten und Aufstellungsleiter Verantwortung für andere Menschen tragen, ebenfalls ein großer Irrtum, der ganz bestimmte Folgen hat. Eine Folge des Bildes von Verantwortungsübernahme in der Therapie ist z. B., dass daraufhin eine Form von Anhänglichkeit oder Abhängigkeit oder Unselbstständigkeit des Klienten auftaucht, für die wiederum der Therapeut die Verantwortung übernehmen möchte, um sie zu lösen - ein Teufelskreis, durch den sich die Psychotherapie selbst erhält. Existiert in einem Kontakt das Bild, dass Verantwortung abgegeben oder übernommen werden kann, so befindet man sich automatisch (als Trancezustand) in dem Eltern-Kind-Verhältnis, das nicht lösbar ist. Die einzige Lösung besteht in diesem Fall in der Aufklärung für den Klienten, dass Verantwortungsabgabe eine Illusion ist und es nur die wahren Eltern gibt und absolut keinen Elternersatz, nicht einmal durch Lehrer oder Therapeuten.
Müsste der Hinweis von Aufstellern statt zu Kollegen ("Man braucht Erfahrungen und Reife") nicht besser in folgende Richtung gehen: Jeder Klient trägt selbst die Folgen für seine Entscheidung, sich den Erkenntniswirkungen einer Aufstellung auszusetzen, und auch für seine Wahl, wer sie begleitet?
Ist damit nicht sowieso schon das erste "therapeutische Ziel" erreicht? Und ist damit nicht bereits der Nährboden für manch bindende "Wut" eines Klienten auf den scheinbar Verantwortlichen für die Problemlösung gleich von Beginn an entzogen? Und dann würde sich vielleicht auch der typische hilflose Satz von Aufstellern "Man kann hier nichts machen" verwandeln in "Ich kann hier nichts machen".
Liegt in dem gemeinsamen Bestreben aller "Begleiter", die Klienten als Erstes in Bezug auf ihre Eigenverantwortlichkeit aufzuklären, nicht mehr Kraft (egal wie widersprüchlich das auch ist), als wenn im Gegensatz dazu die Aufstellungsleiter sich gegenseitig "Erfahrungen" ab- oder anerkennen?
Für manche wäre das, wie wenn alle Handwerker zu ihren Kunden zunächst sagen: "Sie können das auch selbst tun!" Dann reagiert der eine Kunde vielleicht tatsächlich so und sagt: "O.k., ich probier´s mal. Vielleicht schaffe ich es. Danke für den Tipp" - und geht.
Und ein anderer Kunde denkt sich: "Der ist aber seltsam. Ich suche mir einen anderen Handwerker" - und geht.
Ein dritter Kunde wird wütend, ruft im Weggehen: "Sie mich auch!" und schlägt die Tür hinter sich zu.
Aber es gibt auch Kunden, die sagen: "Ja, ich weiß, dass ich es auch selbst könnte. Ich möchte aber gerne, dass Sie das für mich tun. Ich zahle den Preis dafür" - und bleiben. Und dann ist der Handwerker sich der Eigenverantwortlichkeit seines Kunden sicher und damit frei, als Dienstleistender zu handeln. So kann die Zusammenarbeit gelingen.
Übrigens: Dass man für das scheinbare Übernehmen von Verantwortung für unterschiedlichste Menschen sehr viel Erfahrung braucht, davon bin ich fest überzeugt! In diesem Fall kann man gar nicht genug Erfahrung haben, um frei sagen zu können: "Ich (oder die Aufstellung, die ich leite) bin qualifiziert und kann Ihnen Impulse zur Lösung Ihres Problems geben."
Ich sage mit meiner wenigen Erfahrung: "Ich biete Ihnen als Organisator die Möglichkeit an, eine Aufstellung durchzuführen. Was dabei herauskommt, werden wir dann alle gemeinsam sehen und jeder für sich deuten. Die Verantwortung für seine Entscheidungen und für alle seine Erfahrungen während einer Aufstellung trägt jeder Teilnehmer selbst."
Wäre das nicht ein entlastender Vorschlag auch für erfahrene Aufsteller, auf diese Weise mit Aufstellungen und mit Teilnehmern umzugehen? Denn so schauen Teilnehmer wesentlich mehr auf ihr eigenes Gefühl als auf ihr "blindes" Vertrauen zu erfahrenen Aufstellungsleitern aus einer Liste (die auch ihre schwarzen Schafe, sprich: fragwürdig arbeitende Personen haben könnte, wie uns Albrecht Mahr im oben genannten Artikel mitteilt, wenn man genau hinschaut). Wer sich bewusst nach eigenem Gefühl für einen Aufstellungsleiter entscheidet, kann besser die Verantwortung für eine (scheinbare) Fehlentscheidung übernehmen, als wenn er sich nach einer Liste richtet, die Qualifikation verspricht, aber nicht immer in der Lage ist, sie auch einzuhalten (nobody ist perfect). In letzterem Fall ist die Gefahr größer, dass ein Teilnehmer sich hinterher ohnmächtig fühlt, weil er die Verantwortung an den qualifizierten Aufstellungsleiter abgegeben hatte.
Unqualifikation
Ist diese Gefahr gegenüber Unqualifizierten nicht wesentlich geringer, vorausgesetzt, sie verstecken ihr Unwissen nicht hinter einer Fassade "scheinbarer" Erfahrung? Mir als Aufstellungsleiter mit wenig Erfahrungen würde es leichter fallen, meine Unqualifikation offen zu zeigen, wenn ich dabei die erfahrenen Aufsteller hinter mir wüsste, und wenn ich wüsste, dass jeder Aufsteller die Übernahme von Verantwortung gegenüber Teilnehmern von sich weisen würde. Aus diesem Gefühl heraus "weiß" ich (als Repräsentant der "anderen" Seite), dass der Ruf mancher Aufsteller nach einer bestimmten Qualifikation in gewisser Weise die damit bekämpfte Problematik eher verstärkt als löst.
Denn ein Neuling, der sich aus dem Feld nicht unterstützt fühlt, hat die Tendenz, sein Neulingsdasein zu verstecken (was natürlich im Endeffekt in seiner eigenen Verantwortung liegt).
Die Alternative, aufgrund weniger Erfahrungen keine Aufstellungen zu leiten, funktioniert nicht, denn der Drang, dies doch zu tun, ist zu groß. Es ist zu "nahe" am Leben dran, zu klar und zu einfach zu verstehen und in den Alltag umzusetzen, zu intensiv in seiner Erkenntniswirkung, als dass man es sein lassen könnte.
Sollten wir nicht dem Klienten seine Suche nach dem passenden Aufstellungsleiter vollständig selbst überlassen, anstatt zu überlegen, wie wir ihm in seiner Suche eine "Sicherheit" geben und ihn dadurch vor seiner eigenen Naivität schützen könnten?
Ich habe bei der gegenwärtigen Situation das Bild eines Kindes, das einen Erwachsenen imitiert, und der Erwachsene damit unzufrieden ist.
Ein unqualifizierter Aufsteller gerät in die Versuchung, die qualifizierten Aufsteller nachzuahmen und Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen. Und nun wehren sich manche Qualifizierten dagegen oder übernehmen die Aufabe, öffentlich darüber zu reflektieren, anstatt die Lösung selbst vorzuleben, nämlich die Verantwortungsübernahme für Klienten abzuweisen.
Noch etwas anderes: Gibt es da nicht einen Unterschied zwischen jemandem, der mit dem Druck nach Qualifikation eine Arbeit ausübt, und dem, der durch seine eigene Leidenschaft angeregt eine Arbeit ausübt?
Ideal wäre natürlich derjenige, der durch seine Leidenschaft zu Qualifikation gelangt, doch der fordert nicht von anderen eine Qualifikation, sondern Leidenschaft.
In Resonanz mit anderen Aufstellern
Meine Konsequenz als junger Aufstellungsleiter gegenüber dieser Diskussion unter erfahrenen Aufstellern, wer Aufstellungen leiten sollte und wer nicht, ist folgende:
Bei denjenigen, die Ermutigungen aussprechen und uneingeschränkte Unterstützung anbieten, fühle ich mich anerkannt, verstanden, integriert und wohl. Dort schaue ich gerne hin und entwickle ein Gefühl, durch das ich in Kontakt treten kann (entweder auf der materiellen oder geistigen Ebene). Ich gehe ein Gleichgewicht zu ihnen ein, gehe in "Resonanz".
Bei denjenigen, die Warnungen aussprechen, Grenzen setzen und der Meinung sind, etwas "lehren" zu müssen, fühle ich mich nicht verstanden, nicht integriert und unwohl. Dort schaue ich weg, distanziere mich, setze auch meinerseits Grenzen gegen diese Personen und gehe davon aus, dass sie mir nicht hilfreich sein können, denn ihre Deutungen sind mit Grenzen durchzogen. In diesem Fall bin ich ebenfalls in eine Resonanz mit ihnen gegangen und befinde mich mit ihnen in einem Gleichgewicht.
Wer sich mit Aufstellungen beschäftigt, wird entdeckt haben, dass es einzig und allein um Integration geht, also um das Auflösen der Illusion von Grenzen. Und diese Integration führt von selbst zu Ordnungen, die befreien, zu Grenzen, die nicht begrenzen, zu Unterschieden, die dazugehören.
Im Angesicht der nicht von Menschen gemachten (nur entdeckten) Phänomene von Aufstellungen sollte es nicht um die Frage gehen, wer qualifiziert ist, sondern wir sollten alle zusammenarbeiten und uns gegenseitig mit dem Material achten, mit dem jeder auf seine Weise an Aufstellungen herangeht. Nur eines sollte ausgeschlossen werden: der Ausschluss.
Am meisten freue ich mich und fühle mich wohl und frei in der Resonanz mit denjenigen, die in jedem Gegenüber das vollständige Potenzial zum Fühlen und Wahrnehmen erkennen können, ohne dabei an Ausbildung oder Weiterbildung zu denken. Jeder Mensch ist, und das macht ihn automatisch zum wahrnehmendenen und fühlenden Wesen. Und deswegen trägt auch jeder selbst die Verantwortung für seine eigenen Gefühle, Wahrnehmungen und die daraus resultierenden Handlungen.
Die Sorge, dass ein Aufstellungskollege mit wenig Wissen Unheil anrichten könnte, ist nach meiner Sichtweise eine Folge von verschobener Verantwortungsübernahme. Diese Sorge ist normalerweise ein Gefühl von Eltern gegenüber ihren Kindern.
Rückgabe einer Last
Einige Aufsteller benutzen das Ritual, eine "Last" in Form eines Kissens oder eines Steins oder eines anderen Symbols wieder an die Person zurückzugeben, von der sie ursprünglich kommt.
Oft wird berichtet, dass dabei ein Widerstand auftritt.
Entweder es fällt einem schwer, diese Last zurückzugeben, oder das Gegenüber mag diese Last nicht so recht zurücknehmen.
Ich persönlich meine, dass das Übernehmen einer Last eine Illusion ist, eine "Fehldeutung". Und weil das Übernehmen einer Last eine Illusion ist, kann auch keine Last zurückgegeben werden. Die versuchte Rückgabe muss auf irgendeiner Ebene zu Widerstand führen, weil man in Wirklichkeit einen Teil von sich selbst abgibt, ohne ihn in seinem positiven Sinn gewürdigt zu haben. Schon alleine das Wort "Last" beinhaltet etwas Negatives, das voraussetzt, dass hier etwas "falsch" gelaufen ist. Es übersieht den übergeordneten Sinn dieser Last. Sie wird nicht anerkannt und in ihrer Existenz gewürdigt. Sie wird nicht als "zu lernende schwere Aufgabe" gesehen.
Wenn also eine Last gar keine Last ist, was schlage ich als alternative Deutung vor?
Derjenige, der eine Last von einem Elternteil übernommen zu haben scheint (ein Schicksal oder eine Krankheit), ist in Wirklichkeit nur ein "Gleichgewicht" zu diesem Elternteil eingegangen (Ergänzung 2006: ... hat sich seinen Eltern und deren Schicksal "zur Verfügung gestellt").
Wäre tatsächlich eine Last übernommen worden, müsste es doch beim Elternteil befreiend wirken, doch das tut es meistens nicht. Man geht einfach nur ein Gleichgewicht zum Schicksal des anderen ein - aus Liebe, aus dem Wunsch, den anderen verstehen zu können, aus dem Wunsch, das Problem am Ende lösen zu können. Würde man das nicht tun, so wäre ein Gefühl von Distanz und Ausschluss da, für das man nicht bereit ist. Und da man nicht bereit ist zur "Abkoppelung", lebt man so lange in diesem (Un-)Gleichgewicht, bis man an und in diesem Schicksal gereift ist und danach sagen kann: Ich habe etwas erkannt und gehe dadurch nun einen (scheinbar) getrennten Weg von dir (bisher: Ich gebe die Last an dich zurück).
Der gemeinsame Weg, die gemeinsame Last war eine notwendige Reifungszeit, die nicht wieder zurückgegeben werden kann, sondern unabänderlich zum eigenen Lebensweg gehört und zu dieser Erkenntnis geführt hat. Eine Last ist nichts weiter als eine schwere Aufgabe, die man noch nicht gelöst hat und gegen die man sich wehrt und sie verschieben will, weil sie so schwer ist. Doch man wird immer wieder mit dieser Aufgabe konfrontiert, bis sie gelöst und vollständig integriert ist. Dann ist es ganz "leicht", und die Last ist verschwunden, auch für die nachfolgende Generation.
Haben die Eltern diese Aufgabe nicht lösen können, müssen die Kinder weiterknobeln, denn sie kennen ebenfalls die Lösung noch nicht und werden vom Leben damit konfrontiert. Eine Erkenntnis kann es auch sein, wenn man entdeckt, dass man selbst diese Aufgabe nicht lösen kann, weil sie in der Generation davor gestellt wurde. Doch dann muss man nichts mehr zurückgeben. Diese Erkenntnis genügt und löst von selbst. (Ergänzung 2006: Heute weiß ich, dass der Satz "Ich stehe dafür nicht weiter zur Verfügung" eine genial befreiende Wirkung haben kann, wenn man zu dem schmerzhaften Schicksal eines anderen Menschen ein Gleichgewicht eingegangen war. Nun steht man diesem Schicksal nicht weiter zur Verfügung, versucht nicht mehr, es zu lösen, überlässt die Lösung vollständig demjenigen, der das Schicksal trägt und zu dem es gehört. Siehe auch mein Buch "Ich stehe nicht mehr zur Verfügung").
Hauptziel ist meiner Meinung nach das Erreichen einer bestimmten, von selbst lösenden Erkenntnis, und Aufstellungen unterstützen uns darin (eben wie ein Spiegel).
Dabei kann eine Erkenntnis sowohl das Anerkennen vergangener schmerzvoller Ereignisse wie auch das Anerkennen kraftvoller Ressourcen für die Gegenwart oder die Zukunft bedeuten. Die Möglichkeit der Erkenntnis beinhaltet immer sowohl das Aufdecken und Ausleben einer vorhandenen Schmerzquelle als auch das Aufdecken und Ausleben einer vorhandenen Kraftquelle, je nachdem was gerade gesehen werden will. Und beides führt zum jeweils passenden Zeitpunkt in ein neues Gleichgewicht.
In Bezug auf eine scheinbar übernommene Last ist es oft der große Schmerz "Ich kann dir nicht helfen, und das tut mir so weh!", den man noch nicht erkannt hat oder nicht zulassen kann, und deshalb lieber an dem Gleichgewicht zu dieser Last festhält.
Ein Therapeut, der diesen Satz nicht sagen kann, sondern an seiner Hilfe für einen anderen Menschen festhält, meint, Verantwortung für diesen anderen Menschen zu haben.
Das Loslassen dieser Verantwortung würde ihm selbst wehtun. Außerdem führt dieser unausgelebte Schmerz zu einer gewissen "Härte" gegenüber dem Klienten, wenn der Therapeut sich machtlos zu fühlen beginnt. So ähnlich wie Eltern, die sich gegenüber dem Verhalten ihres Kindes machtlos fühlen, aber nicht loslassen (nicht trauern) können und hart (trotzig) werden.
Konnte dieser Schmerz erkannt und ausgelebt und entlasstet werden, ist man fähig, zu seinen Kindern oder seinen Klienten oder auch seinen Eltern (zu denen man ein Gleichgewicht eingegangen war) zu sagen:
"Ich habe durch die Last gelernt. Nun habe ich etwas erkannt, habe ausgelernt und gehe einen neuen Weg, lerne etwas Neues. Ich erkenne deinen Weg an und gehe dadurch meinen."
Oder ganz einfach und mit Liebe: "Ich habe erkannt, dass ich dir nicht helfen kann, und das tut mir sehr Leid."(Ergänzung 2006: ...oder "Ich stehe für dieses Gefühl / dieses Verhaltensmuster / diese Hilfe nicht mehr zur Verfügung.")
In diesem Sinne sage ich hier zu denjenigen erfahrenen Aufstellern, die gerne Verantwortungen für das Feld der Aufsteller übernehmen: "Ich habe erkannt, dass ich euch in eurer Sichtweise nicht unterstützen kann, und das tut mir sehr Leid. Bitte, schaut freundlich zu mir, wenn ich mich jetzt entscheide, die Vorstellung von einer langen Ausbildung und Reifung loszulassen; und auch die Vorstellung von der Möglichkeit, für andere Menschen Verantwortung zu übernehmen, weglasse; und wenn ich dadurch nun zu euch ein (scheinbares) Ungleichgewicht eingehe und mithilfe meines Gefühls und sehr wenigen Erfahrungen Aufstellungen organisiere, anbiete und so leite, wie es zu dem Zeitpunkt für alle stimmig ist. Ich danke euch dafür, dass ihr die Wege gebahnt, Erfahrungen gesammelt, Bücher und Seminare angeboten, Videos hergestellt und insgesamt unser morphogenetisches Feld der Aufstellungen weiterentwickelt habt. Ohne das alles könnte ich jetzt nicht diesen Schritt tun."
Ich wünsche mir, dass in dem ständig wachsenden Feld der Aufsteller der Begriff "Erfahrung" im Laufe der Zeit zweitrangig wird und an die erste Stelle das Bild von "Antennen" treten kann. Jeder Mensch ist zu jedem Zeitpunkt eine Antenne für Intuitionen, in Resonanz mit seiner Umwelt, durch seine eigene Sichtweise eingestellt auf bestimmte Frequenzen. Und egal, was empfangen und wie es gedeutet wird, es hat immer seinen Ursprung im Kollektiv.
Ein Ende dieser Ent-Wicklung wäre, dass jeder Mensch sich selbst als Aufstellungsleiter seiner eigenen Lebensaufstellung erleben kann. In diesem Moment wäre das Aufstellen in den Alltag integriert, und jeder hätte das erkannt, was Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer bereits beschrieben haben: Aufstellungen finden immer und überall statt (auch ohne Aufstellungsleiter).
Unser Umfeld ist immer ein Spiegelbild zu unserem Inneren, es geht ständig ein Gleichgewicht zu unseren eigenen unerlösten Wünschen nach Integration ein, ohne Ausnahme. Wir haben die volle Verantwortung für das, was uns begegnet und wie wir darauf reagieren.
Und gleichzeitig kommen unsere Wünsche aus dem Kollektiv, sind mit dem Kollektiv in Resonanz, im Gleichgewicht.
Das ist die Faszination des Lebens und des Aufstellens gleichermaßen: das Erlebnis von Selbstständigkeit und gleichzeitig von absolutem Eingebundensein.
Aufstellen ist konzentriertes Leben.
Autor: Olaf Jacobsen Erschienen in: "Praxis der Systemaufstellung", Heft 2, 2002, S. 73 ff.
"Die Konsequenzen eines jungen Aufstellungsleiters", 2002
"Frei oder geführt?", 2005
"Das Potenzial zur Selbstentfaltung", 2006
"Missverstanden - Das freie Aufstellen ergänzt", 2006
"Frei ist nicht gleich frei", 2007
"Verstrickte Gefühle - Familienstellen hilft", 2007
"Familienprobleme - oft nur Theater?", 2008
"Wünsche wecken Wirkungen und Wertungen", 2010
"Interview mit Olaf Jacobsen - von Ilka Baum", 2011
"Das Potenzial der Freien Systemischen Aufstellungen" - PDF-Datei, 2011